Romantische Beziehungen haben sich bisher für mich gestaltet wie ein Computerspiel, durch das ich planlos gestolpert bin, ohne das Regelwerk zu kennen, und in dem ich mich mühsam Level für Level voran kämpfte, während fast alle anderen schon bei Level 100 zu sein schienen.
Level 0: Ungeküsst
15 – 19 Jahre. In einer Kleinstadt aufwachsend, wird mir klar, dass ich lesbisch bin. Andere queere Menschen oder Treffpunkte scheint es hier nicht zu geben, zumindest entziehen sie sich meiner Kenntnis. Ich habe keine Ahnung, wie ich jemals eine Freundin finden soll.
Level 1: Nasser Waschlappen
19-22 Jahre. Ich bin in die Großstadt gezogen und gehe, nachdem ich all meinen Mut zusammengenommen habe, zu einem queeren Jugendtreff und auf Partys. Mir ist immer noch schleierhaft, wie ich eine Freundin finden soll. Doch auf den Partys mache ich erste Erfahrungen, so auch meinen ersten Kuss mit einer Frau. Das passiert so: Die Frau fällt mir in der Menge des Clubs auf und ich beobachte sie aus der Ferne. Unsere Blicke treffen sich.
Lange Zeit passiert nichts.
Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll, und sie anscheinend auch nicht. Irgendwann scheint sie eine Lösung zu finden, denn einer ihrer Freunde kommt auf mich zu und sagt mir, dass sie mir gerne etwas zu trinken ausgeben würde. Nach dem Getränk tanzen wir. Mein Gehirn rast. Wir kommen uns näher, unsere Körper kommunizieren in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Schließlich küssen wir uns. Das Ganze fühlt sich grundsätzlich gut und richtig an und gibt mir die Gewissheit, dass ich wirklich auf Frauen stehe und mir das nicht nur einbilde. Doch der Kuss ist nicht so atemberaubend, wie es immer heißt, außer in dem Sinne, dass er Atmen effektiv verhindert und ich in den Pausen schnell Luft holen muss. Aber vor allem ist er nass.
Auch nach einigen weiteren Malen erschließt sich mir der Sinn des Küssens noch nicht so richtig, da es sich meist so anfühlt, als würde mir ein nasser Waschlappen in den Mund gesteckt. Überhaupt sind das ganze Flirten und Kennenlernen für mich alles andere als intuitiv, wie es das angeblich sein soll.
Level 2: Bescheidene Anfänge
22 Jahre. Ich bin seit einem Jahr mit einer Frau aus dem queeren Treff befreundet. Seit einem Jahr knistert es zwischen uns, aber nichts passiert, denn wir wissen beide nicht, was wir tun sollen. Schließlich halte ich es nicht mehr aus und schreibe ihr einen Brief, in dem ich sie frage, ob wir es miteinander versuchen wollen. Sie bejaht, ebenfalls in einem Brief. Wir versuchen es.
Aber auch hier ergibt sich nichts intuitiv. Schließlich hilft nur, vor jedem Schritt zu fragen, vom Händchen halten bis zum Küssen. Nichts von wegen „sie sahen einander tief in die Augen und ihre Lippen fanden sich von ganz alleine“. (Was im Sinne von Consent auch gar nicht so gut wäre.) Vor unserem ersten Kuss fragt sie mich, ob wir uns küssen wollen, und dann küssen wir uns, an einer Bushaltestelle, während ein hupendes Auto vorbeifährt. (Idioten!)
Küssen fühlt sich immer noch seltsam für mich an. Bis zum Sex kommen wir gar nicht erst, da uns beiden nicht so richtig danach ist. Nach einem halben Jahr beenden wir die Beziehung aus Mangel an tieferen Gefühlen füreinander.
Level 3: Was ich alles nicht kann
25 Jahre. Nachdem 3 Jahre lang nichts passiert ist, lerne ich wieder eine Frau kennen und wir beginnen eine Beziehung. Mit ihr habe ich mein erstes Mal. Mittlerweile finde ich Küssen sogar schön – vielleicht ist das wie mit Kaffee, dessen Geschmack man auch erst nach Gewöhnung zu schätzen lernt? Beim Sex ist mir allerdings unklar, was eigentlich passieren und wie ich einen Orgasmus bekommen soll, denn ich hatte noch nie einen.
Doch als größtes Hindernis stellt sich heraus, dass wir sehr unterschiedliche Bedürfnisse haben. Sie ist eher extrovertiert und wirft mir vor, zu introvertiert und schweigsam zu sein. Auch erfahre ich jetzt, welche Dinge viele Leute in Beziehungen für selbstverständlich halten, die für mich unmöglich sind: Ständig Zeit miteinander (und dem Freundeskreis der anderen) verbringen. Die gewohnte Routine aufgeben, die ich alleine habe, und weniger Zeit für meine Hobbys haben. Zusammen in einem Bett schlafen.
Ich verstehe nicht, wie Leute sich all das antun können, und habe das Gefühl, niemals die Erwartungen meiner Freundin erfüllen zu können, egal, wie sehr ich mich anstrenge. Das bewahrheitet sich, denn nach 4 Monaten macht sie Schluss.
Level 4: Selbstbefriedigung und die Dating-Blackbox
25 – 27 Jahre. Ich erforsche meinen Körper und fange an zu masturbieren, was ich tatsächlich noch nie zuvor ausprobiert habe. Auch das ist anfangs unintuitiv und ich empfinde nichts. Mithilfe von Lehrmaterial („Hand drauf“ von Gianna Bacio und dem Online-Kurs „Oh my God yes“) gelingt es mir dann doch, körperliche Lust zu empfinden, und ich habe nach monatelanger Übung erstmals einen Orgasmus.
Genau, ich habe ein Lehrbuch gebraucht, um Masturbieren zu lernen.
Außerdem beginne ich mit Onlinedating und suche die Flucht nach vorn, indem ich in mein Profil schreibe, dass ich introvertiert bin und viel Zeit für mich brauche. Doch das Dating ist eine komplette Blackbox für mich. Nach dem ersten Treffen – falls es überhaupt zu einem kommt – wird nie etwas daraus und ich verstehe nicht, warum.
Level 5: Scheitern auf einem höheren Level
27 Jahre. Ich lerne eine Frau über eine Partnerbörse kennen. Da sie weit weg wohnt, sehen wir uns nur einmal im Monat und so überfordert mich der Kontakt zeitlich nicht. Sie hat Verständnis für meine Eigenheiten, zum Beispiel, dass ich nicht in einem Bett mit ihr schlafen will. Auch sexuell klappt es besser als in meiner vorigen Beziehung, allerdings habe ich Schwierigkeiten, in ihrem Beisein einen Orgasmus zu haben.
Ansonsten sind wir uns sehr ähnlich, was mich zu trügerischen Hoffnungen verleitet.
Zu ähnlich.
Zum Beispiel darin, dass wir beide Schwierigkeiten haben, zu sagen, was uns stört. Sie ist außerdem ungeoutet und verheimlicht mich vor ihren Eltern. Nach einem halben Jahr beendet sie die Beziehung. Aber ich kann einige wertvolle Erfahrungen daraus mitnehmen.
Level 6: Noch mehr Selbstfindung
27-29 Jahre. Ich habe erst mal genug von Beziehungen und kümmere mich um mich, finde viel über mich heraus und reflektiere, was passiert ist. Ich lese das Buch „Jeder ist beziehungsfähig“ von Stefanie Stahl und mache eine Therapie. Außerdem gestehe ich mir ein, dass ich auf BDSM stehe, und mache damit meine ersten Erfahrungen. Gefesselt zu werden, lässt mich ganz neue Level an Intensität erfahren, erfordert aber auch ganz neue Level an Kommunikation, an denen ich mitunter scheitere.
Level 7: Bisher der Endboss
29-30 Jahre. Ich lerne über eine Telegram-Gruppe zu BDSM eine nonbinäre Person kennen. Wir treffen uns in der Stadt, wo they wohnt, haben beim ersten Date Sex und ich übernachte ungeplant dort. So viel Spontaneität lässt mich vor Schreck fast tot umfallen.
Die Beziehung läuft jetzt seit einem Jahr, somit die längste, die ich bisher hatte, und hat sogar einen größeren Streit überstanden. Wie meine vorige Beziehung ist sie eine Fernbeziehung und überfordert mich daher nicht.
Ich habe viel über Kommunikation gelernt und die Person kann ebenfalls deutlich besser kommunizieren als meine früheren Partnerinnen. Allerdings bin ich mir unsicher, ob ich wirklich in them verliebt bin. Oder ist das, was ich für Verliebtsein halte, in Wirklichkeit Drama, Verlustangst und Jagdinstinkt, wie ich es von früher kenne?
Auch macht mich unsicher, dass die Person polyamor lebt (also mehrere Beziehungen hat), was bei mir die Angst auslöst, dass ich links liegen gelassen werde. Ich versuche, mich mit meiner Angst auseinander zu setzen.
Level 7.1: Neue Erfolge
30 Jahre. Lerne im Zug eine interessante Frau kennen und traue mich tatsächlich, sie anzusprechen! Sie lebt auch poly. Demnächst wollen wir uns wieder treffen. Ich bin gespannt, was mich noch so erwartet, wenn ich mich in Zukunft mit meinen mühsam erworbenen Kommunikationsskills mehr traue, Leute kennenzulernen.
Soweit bisher. Nichts in puncto Beziehungen war für mich einfach und intuitiv, aber auch ohne das Regelbuch habe ich es allmählich geschafft hochzuleveln. Allerdings sind viele klassische Beziehungs-Level für mich weiterhin nicht drin: In einem Bett schlafen, sich häufig sehen, zusammen wohnen, heiraten oder Kinder kriegen. Vielleicht könnte ich mir zusammen wohnen eines Tages vorstellen, mit der richtigen Person dafür. Zusammen in einem Bett schlafen kann ich wahrscheinlich aufgrund meiner Reizempfindlichkeit nie. Den Sinn und Zweck von Heiraten sehe ich nicht so richtig, außer vielleicht für die Steuer. Und bevor ich mir eine Quelle von Lärm, Chaos, Dreck und spontanen Planänderungen (aka Kinder) ins Haus hole, denke ich eher noch über eine Katze nach. Das Level 100, auf dem viele andere zu sein scheinen, ist daher wohl nicht für mich erreichbar – und entpuppt sich außerdem als nicht ganz so traumhaft wie versprochen, wenn ich von unerwarteten Scheidungen der vor kurzem noch glücklich Verheirateten oder schlaflosen Nächten der jungen Eltern höre.
Stattdessen gibt es für mich andere Level. Ich habe akzeptiert, dass die Standardwege für mich nicht funktionieren, und versuche, meinen eigenen Weg zu finden. Vielleicht kann mein Bericht Menschen Hoffnung geben, denen es ähnlich geht.
Julia List (sie/ihr) versucht seit 1993 die Welt und menschliche Beziehungen zu verstehen, mit wechselhaftem Erfolg. In ihren Texten verarbeitet sie Gedanken zu Queerness, Liebe und Sex. Instagram: julia.list.texte