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Ganz tief drin




Dinge, die mir aufgefallen sind

Dinge, die mir nicht aufgefallen sind


Dass es auch in der Oberstufe noch Jungs gab, vor denen man sich in Acht nehmen musste. Du weißt schon, die, die einen vermutlich gegen die Wand schubsen und einem das Taschengeld klauen wollten. Das konnte man ihnen ansehen, wie sie einen im Vorbeigehen anschauten mit diesem starrenden Blick, mit dem sie abschätzten, ob man ein potenzielles Opfer war. Aber diese Jungs gab es schon immer. Und wie schon in der vierten Klasse musste ich mich nur ganz dicht neben meine Freundinnen stellen, um zu zeigen, dass ich Teil einer Gruppe war und keine leichte Beute. Dann dem Typen direkt in die Augen sehen, um zu zeigen, dass ich keine Angst hatte. Das hat immer gewirkt. Auch noch in der Oberstufe.


Dass diese Jungs längst nicht mehr an Taschengeld dachten, sondern auf meine Brüste starrten.



Dass meine Freundinnen in der Schule immer Witze darüber machten, wie naiv und kindlich ich doch noch war. Am beliebtesten war: „Das erkläre ich dir, wenn du groß bist!“ Durch die Haare strubbeln. Allgemeines Gelächter. Diese Witze gab es auch noch im Studium. Ich bekam sie immer nur von Gleichaltrigen zu hören. Nie von Leuten, die tatsächlich älter waren als ich.


Wie sich diese Witze in meinem Inneren festsetzten. Bis heute habe ich eine seltsame Angst davor, Medien zu konsumieren, die sich nicht ausschließlich an Erwachsene richten. Ich habe Angst, dass die Erwachsenen, wenn ich ein Jugendbuch lese, merken, dass ich in Wirklichkeit gar keine von ihnen bin.


Dass ich mich immer entschieden darum drückte, einen Tanzkurs zu besuchen.

Dass mir immer alle damit in den Ohren lagen, dass man das aber irgendwann machen müsse. „Wie willst du denn sonst später den Hochzeitswalzer auf deiner Hochzeit tanzen?“


Dass ich nicht die einzige auf der Welt war, die nicht so unnatürlich nahe bei einem Fremden stehen wollte, beide die Hand an der Hüfte des jeweils anderen.


Dass es praktische Bücher zum Thema sexuelle Aufklärung gab, die einem alles erklärten, was man später mal wissen musste:

1.: Heterosexuelle (ca. 99,5 % der Buchseiten, also nach Teenagergefühl auch ca. 99,5 % der Bevölkerung).


Was Wissenschaftler*innen dazu sagen. Dass in diesen Büchern generell kaum wissenschaftliche Erkenntnisse vorkamen.


2.: 2.1: Homosexuelle (genau das Gleiche, nur mit zwei Männern oder zwei Frauen halt). 2.2: Perverse.

Alles andere.


Dass ich das Wissen aus meiner sexuellen Aufklärung mit meinem ersten Freund korrekt anwenden konnte.

Dieser eine Moment, als er zu mir sagte: „Wenn ich irgendwas mache, das du nicht willst, musst du mir das sofort sagen.“

Dass ich keine Ahnung hatte, was er meinte. Dass ich aber genau wusste, dass dieser Satz in einem Roman bedeutet hätte, dass er einer von den Guten war und genau das Richtige tat. Dieses Gefühl, als säße ich in einer Prüfung, für die ich vergessen hatte zu lernen. Aber wenn man in solchen Prüfungen so tut, als hätte man gelernt, und nur intensiv genug mitdenkt, dann kann man vielleicht doch noch eine Vier rausholen. Also nicken und „M-hmm“ machen, als wüsste ich genau, wovon er redete.


Dass ich nach dem ersten Mal im Badezimmer geweint habe.


Dass das nicht alle Frauen tun.


Dass mein Freund danach darauf bestanden hat, auf dem Sofa zu schlafen.


Warum er das gemacht hat. Und warum ich nicht gefragt habe, warum er das macht.


Dass ich während des Studiums irgendwie Pech mit den Männern hatte.


Dass es in der einen Fernsehserie, die wirklich alle guckten, diese eine Szene gab. Ein Mann gestand einem anderen, dass er weder auf Männer noch auf Frauen stand. Der andere Mann fragte, worauf er dann stehe, schüttelte schließlich den Kopf und erklärte: „Everybody is interested in something.“ Ein Bösewicht, der mehrere Bordelle besaß, sprach denselben Charakter in einer anderen Szene darauf an, dass es in dieser Stadt für jeden Geschmack etwas gebe. Auch für Leute, die am liebsten mit Kindern oder Leichen schliefen.


Dass es in einer anderen Serie einen Charakter gab, der nicht mit seiner Frau schlafen wollte, weil es „Wichtigeres zu tun“ gäbe. Und dass dieser Charakter ausgiebig Leute folterte, um seine politischen Ziele zu erreichen.


Dass der Serienmörder aus diesem berühmten Film lieber Zauberparfüms aus den von ihm ermordeten Jungfrauen herstellte, als mit ihnen zu schlafen.


Dass ein Bösewicht in der Agentenfilmreihe, in der auch dieses schwule Auftragskillerpärchen vorkam, nicht rauchte, nicht trank und nicht mit Frauen schlief, um seine Aufmerksamkeit ganz und gar seinen perfiden Plänen widmen zu können.


Dass ich nach einigem Googeln und Lesen von Onlineartikeln erleichtert feststellte, dass ich allen Anzeichen nach weder pädophil noch sadistisch veranlagt war.


Wie ich auf die Idee gekommen war, das überhaupt zu googeln.


Dass ich irgendwann doch die große Liebe fand.

Dass Geschlechtsverkehr immer einer der größten Konfliktpunkte in der Beziehung war.

Dass mein Partner mich so liebt, wie ich bin.

Dass ich mich irgendwann traute, im Internet zu recherchieren und mehr über das Thema Asexualität zu erfahren. Kurz danach hatte ich mein Coming-out.


Dass meine Freunde, meine Familie und mein Partner die Neuigkeiten gelassen aufnahmen und mich unterstützten.

Dass ich trotzdem vor jedem einzelnen dieser Gespräche Herzrasen hatte und mir ein bisschen schwindelig wurde, weil ich solche Sorge hatte.


Dass ich irgendwann in einem queeren Manga eine Szene las, in der eine Asexuelle mit den gleichen Ängsten wie ich kämpfte, nicht bei den Erwachsenen mitmachen zu dürfen. Sie machte schließlich mit zwei Freund*innen einen Filmeabend, um diese Ängste zu bekämpfen. Sie schauten gemeinsam eine alte Kinderserie, die sie geliebt und dann als Teenager mittendrin abgebrochen hatte, weil ihre Freunde sie nicht für kindlich halten sollten. Davon beflügelt kaufte ich mir heimlich eine Gesamtausgabe meiner Lieblings-Comicserie aus meiner Jugend. Ich habe bisher nur drei Menschen davon erzählt. Zwei von den drei Malen bin ich dabei spontan in Tränen ausgebrochen. Mein Partner war verblüfft, dass etwas so Banales für mich mit so viel Scham verbunden war.

Dass ich mich manchmal fragte, warum ich so lange für mein Coming-out gebraucht hatte. Bis ich siebenundzwanzig war. Schon seit fast zehn Jahren erwachsen.


Dass ich irgendwann in einem Buch über Asexualität auf den Begriff „internalisierte Unterdrückung“ stieß. Und dass dieser Begriff sehr, sehr viel für mich erklärte.


 

Laura Schmidt ist das Pseudonym einer asexuellen Autorin, die unter anderem Namen Fantasyromane veröffentlicht. Sie lebt mit ihrem Mann in NRW und backt in ihrer Freizeit gerne Kekse oder liest ein gutes Buch.


Das Copyright des Fotos liegt bei der Autorin.



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