Nachdem ich mich durch das Abi gekämpft hatte, wollte ich neu anfangen und eine komplett neue Person werden. Aber das war schwieriger als gedacht. In der Schule war ich immer Durchschnitt. Durchschnittsnoten, Durchschnittsfreunde und Durchschnittsbeliebtheit. Ich wurde nicht gemobbt, zählte aber auch nicht zu den Cool Kids. Damit hatte ich mich irgendwann abgefunden. Doch womit ich mich nicht abgefunden hatte, war der ständige Druck, etwas aus meinem Leben zu machen. Woher sollte ich wissen, was ich werden will, wenn ich das Abitur geschafft habe? Bis dahin kannte ich nur eine Lebensweise: Schule, Job, Heirat, Haus, Kinder. Und alles, bevor man 25 Jahre alt wurde. Genauso lebten es mir meine Großeltern, Eltern und sämtliche Nachbarn in dem kleinen Dorf, in dem ich aufwuchs, vor. All die Einfamilienhäuser um mich herum, mit den dazugehörigen glücklichen Familien darin – irgendetwas in mir hat sich dagegen gesträubt, ich konnte es nur nicht beschreiben. Die Schule habe ich nur noch als Sackgasse wahrgenommen, in der man nichts über das wahre Leben gelehrt bekommt. Doch ich musste weiter machen, denn wenn ich vorzeitig abgegangen wäre, hätte ich keine Perspektive gehabt. Ich wusste nur, dass ich das, was mir vorgelebt wurde, nicht wollte. Doch was ich stattdessen wollte, wusste ich auch nicht. Und niemand konnte mir helfen. Die Angst vor dem Ungewissen führte schließlich zu Selbstmordgedanken, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Sechs Jahre, eine Ausbildung und einen Durchschnittsjob später bin ich für mich zu dem Schluss gekommen, dass es wohl keinen Sinn im Leben gibt. Wir werden geboren, versuchen irgendwie durch das Leben zu kommen und sterben schließlich. Das macht es einfacher für mich.
Ich habe mich bewusst gegen ein Studium entschieden. Damit war ich eine Ausnahme unter meinen Mitschülern. Aber ich habe die letzten Jahre so gehasst, dass ich nicht noch weiter die Schulbank drücken wollte. Da ich aber immer noch nicht wusste, was ich mit meinem Leben anfangen will, entschied ich mich für das BWL-Studium unter den Ausbildungen: Kauffrau für Büromanagement. „Damit kannst du später überall anfangen“, unterstützten meine Eltern die Entscheidung. Da ich mich somit noch nicht vollständig festlegen musste, wiegte ich mich erstmal in Sicherheit. Ich wählte den Ausbildungsort so weit weg wie möglich von meinem Heimatort, der mich an die bisher schlimmste Zeit in meinem Leben erinnerte. Einen Ort, an dem mich niemand kannte und an dem ich mich völlig neu erfinden könnte. Also zog ich 600 km weit weg in ein kleines ruhiges Städtchen in der Nähe von Köln. Wie bei allem lief es am Anfang ganz gut. Ich lebte mich in meiner ersten eigenen Wohnung ein, saugte die neuen Aufgaben in meinem Job wie ein Schwamm auf und fand neue Freunde in der Berufsschule. Doch irgendetwas stimmte immer noch nicht. Der Frust, die Traurigkeit und die Einsamkeit schlichen sich langsam zurück in mein Leben. Wie immer ließ ich mir nichts anmerken. Stattdessen fraß ich meine Gefühle lieber in mich hinein. Das war die einfachste Lösung für mich. Hungern hatte ich schon einmal versucht. Für meinen Abiball wollte ich so gut wie möglich aussehen, ernährte mich wochenlang hauptsächlich von Gemüse und nahm nicht mehr als 500 Kalorien pro Tag zu mir. Dadurch verlor ich in kürzester Zeit 10 kg Körpergewicht und war wirklich stolz auf mich. Jetzt hatte ich nach einem halben Jahr 20 kg zugenommen und war immer noch nicht glücklicher. Im Gegenteil. Zusätzlich zu meinen gewöhnlichen Problemen musste ich mir nun auch noch Sorgen um mein Gewicht machen. In der Zeit von Social Media, in der man ständig mit super dünnen glücklichen Menschen konfrontiert wird. Doch Aufgeben war für mich keine Option. Ich sagte mir, ich habe das Abi durchgezogen, also ziehe ich auch die Ausbildung durch.
Irgendwie habe ich auch diese drei Jahre überstanden. Doch auch jetzt wusste ich nicht, wie es weitergehen soll. Ich stand am selben Punkt wie nach dem Abi. Für mich war es nur logisch, wieder an einen neuen Ort zu ziehen. Vielleicht klappte es diesmal mit der Neuerfindung meiner Person. Meine erste Anlaufstelle war Berlin. Dort leben doch alle hippen Leute. Die große Stadt jagte mir zugegebenermaßen ein wenig Angst ein. Es mag auch daran gelegen haben, dass ich jetzt doch studieren wollte. Aufgrund meiner vergangenen Gewichtsschwankungen interessierte ich mich neuerdings für Ernährung und Sport. Daher fiel meine Wahl auf den dualen Studiengang Ernährungswissenschaften.
An einem Tag hatte ich drei Vorstellungsgespräche in verschiedenen Fitnessstudios in Berlin, welche alle sehr gut verliefen. Nichts hätte gegen meinen Neubeginn dort gesprochen. Bis auf ich selbst. Schon an diesem einen Tag war ich überfordert gewesen. Es war mir alles zu viel und zu groß. Die Menschen, der Verkehr, der Lärm.
Das Ende der Ausbildung rückte immer näher, mein Stresslevel schoss ungebremst in die Höhe. Also kam Plan B ins Spiel. Oder war es schon Plan X, Y, Z?
Mein neuer Ort der Begierde war Kiel. Nach einem erfolgreichen Umzug machte ich mich auf den Weg für ein zweiwöchiges Probearbeiten in einem Fitnessstudio. Schon im Auto ergriff mich ein komisches Gefühl, und es konnte nicht nur daran liegen, dass ich drauf und dran war, an meinem ersten Tag zu spät zu kommen. Ich parkte einige Gehminuten entfernt vom Studio. Und dann passierte es mitten auf dem Gehweg. Ich rang nach Luft, die Tränen liefen unkontrolliert meine Wangen herunter. ‚Ich kann das nicht! Ich will das nicht!‘ ,spielte es in meinem Kopf wie ein lästiger Ohrwurm, den man nicht loswerden kann. Ich stoppte, wischte mir die Tränen weg und wollte es durchziehen. Doch als ich durch die Eingangstür des Studios trat und nett von dem Personal begrüßt wurde, machte es Klick in meinem Kopf. Ich erzählte dem Manager, dass ich soeben einen Anruf erhalten hätte, meine Oma sei verstorben. Die Tränen, die nun wieder zu fließen begannen, machten diese Lüge umso glaubwürdiger. Auch wenn sie nicht aus Trauer um meine sehr lebendige Oma waren.
Der Manager ließ mich gehen und wollte sich wieder melden. Am Telefon erklärte ich ihm dann drei Tage später, dass ich mich nun um meinen Opa kümmern müsste und erstmal keine Zeit für ein Studium hätte. Innerlich dankte ich mir selbst, dass ich so gut lügen konnte. „Wenn du es dir nochmal anders überlegst, bist du hier jederzeit willkommen“, sagte er, so nett und rücksichtsvoll wie er war. „Vielen Dank“, sagte ich. ‚Auf keinen Fall!‘, dachte ich in Wirklichkeit. Zwei Wochen versuchte ich zu verarbeiten, was dort auf dem Gehweg passiert war und erzählte später jedem, dass diese Arbeit doch nichts für mich wäre.
Da war ich also. Arbeitslos an einem fremden Ort. Ein halbes Jahr fühlte ich mich mit dieser Situation ziemlich gut. Das erste Mal seit langer Zeit hatte ich eine Pause und sorgte mich nicht um meine berufliche Zukunft. Doch die Stimmen von außen zwangen mich letztendlich doch wieder nach einem Job als Bürokauffrau zu suchen. Dieser hält mich die letzten zwei Jahre über Wasser. Ich hatte seitdem nie wieder eine Panikattacke und habe wieder ein wenig Gewicht verloren, aber ich kann trotzdem nicht behaupten, dass ich glücklich bin.
Jetzt hätte ich die Chance gehabt. Die Chance, mein ganzes Leben zu verändern. Doch ich bin mal wieder zurückgewichen. Vielleicht war es erneut die Angst vor dem Ungewissen oder einfach nur Bequemlichkeit. Es soll jetzt einfach nicht sein, habe ich mir eingeredet.
Zunächst hätte ich über 1.000 km nach München zu einem so genannten Bewerbertag zurücklegen müssen. Wenn ich diesen Schritt gemeistert hätte, wäre ich um eine weitere Corona-Impfung nicht herumgekommen. Die war schließlich Voraussetzung um an Bord gehen zu können. Erst dann hätte ich als „Ausflugsexperte“, wie es in der Stellenausschreibung stand, an Bord eines Kreuzfahrtschiffes anfangen können. Hierfür bräuchte man keine speziellen Qualifikationen und somit war der Job perfekt für mich. Außerdem wäre es bestimmt nicht das Schlimmste, die schönsten Orte der Welt zu sehen und dafür bezahlt zu werden. Aber ich habe mich stattdessen für meinen bekannten Job entschieden und die Bewerbung zurückgezogen. Anderen habe ich immer erzählt, dass ich diese Impfung nicht über mich ergehen lassen wollte. Insgeheim war ich froh, dass ich dieses Prozedere abbrechen konnte. Ich dachte, dass ich für eine Veränderung bereit war. Aber auch für so eine große? Ich hätte meine Wohnung aufgeben und mich um Platz für meine Möbel kümmern müssen, während ich für 6 Monate über die Weltmeere schippere. Ich hätte mich selbst völlig aus dem Leben gerissen. Wäre es das wert gewesen? Sicherlich hätte ich ein paar coole Leute treffen und Erinnerungen fürs Leben schaffen können. Und vielleicht wäre ich sofort auf das nächste Schiff gestiegen und hätte nie mehr zurückgeblickt. Aber das werde ich jetzt nie erfahren.
Mein Arbeitsvertrag ist erst vor kurzem mit Entfristung verlängert worden. Die anfängliche Freude ist aber schon wieder verflogen und ich kann fühlen, wie mich der Alltag langsam auffrisst. Die Anzeichen kommen wieder. Lustlosigkeit, schon bevor man aus dem Bett aufgestanden ist, und vermehrte Lust auf Alkohol sind bei mir Alarmsignale.
Neben all dem habe ich meine Ausbildungen zur Fitnesstrainerin und Ernährungsberaterin abgeschlossen. Die Idee vom eigenen Fitnessstudio, die ich mir vor Jahren einmal in den Kopf gesetzt habe, lässt mich nicht los. Als Einstieg wollte ich neben meinem Vollzeitjob in den Abendstunden in einem Fitnessstudio arbeiten. Leider sind meine Bewerbungen bislang unbeantwortet geblieben, und viel mehr Stellen gibt das Internet gerade nicht her. Stattdessen fand ich eine Anzeige als Büroassistenz in einem Krankenhaus. Acht zusätzliche Stunden im Büro. Ich höre schon die Stimme meiner Oma im Kopf: „Vielleicht lernst du ja einen Arzt kennen“. Nachdem sie wohl die Hoffnung aufgegeben hat, dass ich selbst Medizin studiere und meine eigene Landarztpraxis eröffne, ist sie zur zweitbesten Hoffnung übergegangen. In ihren Augen habe ich, Zitat: „nichts Richtiges gelernt“. Dieser unbekannte Arzt wäre quasi mein Weg in ein unbeschwertes, mit Geld gesegnetes Leben. Soweit die Theorie. Ich debattiere immer noch mit mir selbst, ob ich eine Bewerbung absenden soll oder nicht. Immerhin entferne ich mich immer weiter von meinem ursprünglichen Plan. Welcher war das eigentlich genau? Letztes Jahr war es noch mein absoluter Traum, mich als Ernährungsberaterin selbstständig zu machen. Aber außer einer leeren Webseite und müden Augen von stundenlangen Tutorials über die Selbstständigkeit habe ich nichts erreicht, um diesem Ziel näher zu kommen. Und jetzt stehe ich wieder vor der Frage aller Fragen: Was soll ich tun?
Josephine Hischke, 24, ist in in Wismar geboren. In ihrer Freizeit liest sie gerne und übt sich im kreativen Schreiben. Sport und gesunde Ernährung sind für sie weiterhin wichtige Bestandteile im Leben, auch wenn es damit beruflich nicht klappen sollte.