Ich möchte hier etwas über Grenzen erzählen. Grenzen waren lange Zeit ein Konzept, das für mich nicht existierte, weil ich es nicht kennengelernt hatte. Niemand anders hatte je auf meine Grenzen geachtet und ich selbst auch nicht. Und die Gesellschaft erst recht nicht. Im Gegenteil, das gängige Narrativ lautet, dass man stets über seine Grenzen hinauswachsen soll. „Du kannst alles schaffen, wenn du dich nur genug anstrengst.“ Das heißt aber auch: „Du musst alles schaffen. Du darfst nicht sagen, dass es genug ist, dass du nicht mehr weiter willst. Du darfst auf keinen Fall aufgeben.“
Meine Eltern, insbesondere mein Vater, waren klassische Helikoptereltern. Vor den Elternsprechtagen graute mir, weil mein Vater jedes Mal den Lehrer*innen erzählte, was für ein hochbegabtes Kind ich doch war, dass ich schon vor der Grundschule lesen und schreiben gelernt hätte und dass ich bessere Noten verdient hätte. Ob ich wollte, dass er das erzählte, fragte er nicht. Anschließend musste ich dafür bezahlen, wenn der Lehrer vor der ganzen Klasse zu mir sagte: „Du hast vielleicht früh schreiben gelernt, aber nicht gelernt, den Stift richtig zu halten.“ Dass sein Verhalten dazu beitrug, mich zu beschämen und auszugrenzen, war meinem Vater weder bewusst noch schien es ihn zu interessieren. Ob er sein Verhalten geändert hätte, wenn er es gewusst hätte? Oder ob es ihm egal gewesen wäre, Hauptsache, das Kind bekommt gute Noten? Ihm kam jedenfalls nie in den Sinn, zu fragen, wie ich mich dabei fühlte. Meine Gefühle waren irrelevant.
20 Jahre später hatte ich studiert und mich dann noch durch eine Promotion gequält, obwohl ich zunehmend Zweifel daran hatte und es mir schlecht ging. Aber Abzubrechen kam nicht in Frage. Abbrechen war gleich Aufgeben, und das erschien mir genauso unmöglich wie mir Flügel wachsen zu lassen und zum Mond zu fliegen. Es kam mir naheliegender vor zu sterben. Dennoch wurde mir zunehmend klar, dass ich nach der Promotion nicht in der Wissenschaft bleiben wollte. Doch mein Vater sah das anders. Zu der Zeit, als er studiert hatte, hatte es noch einen akademischen Mittelbau gegeben (also feste Stellen unterhalb der Professur) und er weigerte sich zur Kenntnis zu nehmen, dass sich das geändert hatte. Ständig sagte er, dass ich versuchen sollte, in der Wissenschaft Karriere zu machen. Und dann hörte ich bei einer Familienfeier Gesprächsfetzen mit, die er zu meiner Großtante sagte, etwas wie „Sie will nicht in der Wissenschaft bleiben, sie weiß nicht, was gut für sie ist.“ Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Ich hatte immer nur versucht, zu machen, was er wollte, und das war der Dank dafür.
Bei der nächsten Familienfeier dasselbe Spiel. Erst erzählte er vor versammelter Mannschaft, was für ein schwieriges Kind ich angeblich gewesen war, während ich vor Scham im Boden versinken wollte. Dann bat meine Großtante alle, zu erzählen, was sie gerade machten. Ich erklärte kurz, dass ich weiterhin an meiner Promotion arbeitete. Da sagte mein Vater ungefragt: „Und sie könnte ja so eine tolle Karriere in der Wissenschaft machen, wenn sie wollte ...“
In solchen Situationen wurde mir heiß, mein Gesicht brannte und ich schien keine Luft mehr zu bekommen. Ich fühlte mich hilflos und wie eingefroren, wie eine Puppe oder die Vase in der Ecke. Ich hatte hier kein Mitspracherecht. Es ging nur darum, was mein Vater wollte. Und wenn ich etwas dagegen sagen würde, würde das gegen mich gewendet, dann wäre ich das problematische, wütende Kind, der launische Teenager. Hysterisch. Als Jugendliche wurde ich wegen meiner Wutanfälle zur Maltherapie geschickt, aber mein Vater musste sein Verhalten kein einziges Mal hinterfragen. Ich lernte, dass mit mir etwas nicht stimmte, dass ich ein böses Kind war. Also schwieg ich.
Doch dann geschah etwas Unerwartetes. Meine Großtante sagte: „Das soll sie selber erzählen, wenn sie möchte.“ Das berührte mich tief. Es war das erste und einzige Mal, dass sich jemand schützend vor mich stellte. Ich selber konnte es nicht. Denn dann wäre ich das böse Kind gewesen.
In den Jahren meiner Promotion dachte ich hin und wieder an Selbstmord. Ich dachte oft, wenn das Leben immer nur darin bestand, dass ich die Erwartungen anderer Leute erfüllte, dann würde ich es lieber gleich beenden. Stornieren und zurück an den Absender.
In dieser Zeit half es mir, den Manga „Dialoge mit mir selbst“ von Kabi Nagata zu lesen. Darin beschreibt Nagata ihren eigenen Kampf mit ihren psychischen Problemen und ihren Eltern, die nichts anerkannten, was sie tat. An einer Stelle fand Nagata den Vergleich eines Maßstabs. Wenn man sich an einem Maßstab misst, kommt es darauf an, welche Skala er hat. Es bringt nichts, sich an einem fremden Maßstab zu messen, sondern man muss seinen eigenen finden.
Dieser Gedanke hatte auf mich eine große Wirkung. Das ist nichts, was man in unserer kapitalistischen Gesellschaft lernt. Von klein auf lernt man, nach fremden Maßstäben zu leisten und zu funktionieren. Gute Noten in der Schule zu bekommen, zu arbeiten, Karriere zu machen. Niemand fragt einen, was man selbst im Leben will.
Mir wurde klar, dass ich mich von den Maßstäben meines Vaters und der Gesellschaft lösen musste, aber ich war verunsichert und hatte keine Ahnung, wie das gehen sollte.
Dann näherte ich mich dem Ende der Promotion, knapp an einem Burn Out vorbeigeschrammt. Bei der Promotion gibt es verschiedene Noten, davon ist die beste „summa cum laude“ (mit Auszeichnung). Um diese zu bekommen, braucht man eine weitere begutachtende Person, die man rechtzeitig anfragen muss. Man muss also schon vor der Prüfung entscheiden, dass man versuchen will, summa cum laude zu erreichen. Es kann aber sein, dass es trotzdem nicht klappt, weil man dann doch schlechter bewertet wird. Mein Betreuer fragte mich, ob ich das versuchen wollte.
Ich dachte darüber nach. Tatsächlich war mir zu dem Zeitpunkt jeglicher zusätzliche Aufwand und Stress zu viel. Außerdem fragte ich mich, was mir die Auszeichnung überhaupt bringen würde. Sie war eigentlich nur von Vorteil, wenn man in der Wissenschaft bleiben wollte, und ich wollte lieber mit Schweinen Schlammcatchen als das. Die Kosten-Nutzen-Abwägung sprach also klar gegen den Versuch, summa cum laude zu erhalten. Aber das zu auszusprechen, kostete mich eine riesige Überwindung. Das Ganze klingt vielleicht wie ein Luxusproblem – und natürlich war ich privilegiert, überhaupt an diesen Punkt zu kommen –, aber für mich war es unglaublich schwer. Ich musste mich gegen alles wenden, was mir beigebracht worden war, und was mich an den Rande des Burn Outs und suizidaler Gedanken gebracht hatte. Warum versuchte ich nicht, das Maximum dessen zu erreichen, was erreichbar war? Das war der einzige Weg, den ich kannte. Bisher war ich durch jeden Reifen gesprungen, der mir hingehalten wurde, hatte jedes Stöckchen geholt, das mir geworfen wurde. In der Hoffnung, Anerkennung zu bekommen, Wertschätzung, gemocht zu werden. In der Hoffnung, dass irgendwann jemand sagen würde: „Das hast du super gemacht, du bist ein guter Mensch! Und jetzt ist es genug. Jetzt hast du genug geschafft, jetzt darfst du aufhören, dich anzustrengen.“
Doch nach und nach hatte ich begriffen, dass nichts davon passieren würde. Ich konnte mir keine Wertschätzung oder Liebe verdienen. Niemand würde mir sagen, dass es genug war. Solange ich leistete, würden meine Eltern oder andere Leute immer nur mehr Leistung von mir fordern. Sie würden sich niemals zufrieden geben. Die einzige Person, die mir sagen konnte, dass es genug war, war ich selbst.
Ich holte Luft und sagte: „Nein danke, ich möchte kein summa cum laude versuchen.“
Das war der erste Schritt dahin, Grenzen zu setzen.
Wohlweislich erzählte ich meinen Eltern nichts davon, aber sie bekamen zufällig Wind von der Sache und fragten mich, ob ich nicht doch versuchen sollte, summa cum laude zu bekommen. „Wäre das nicht besser für deine Karriere?“
Ich merkte, dass sie mittlerweile vorsichtiger geworden waren und fragten, anstatt zu befehlen. Wahrscheinlich, weil sie meine veränderte Attitüde bemerkt hatten. Doch bei der Frage wurde mir endgültig klar, wie lächerlich das war. Da hatte ich nun einen Master und beinahe einen Doktor geschafft, und meinen Eltern war es immer noch nicht gut genug. Sie würden nie zufrieden sein. Ich hatte die ganze Zeit einem Phantom nachgejagt. Ich antwortete freundlich, aber bestimmt: „Nein, das ist nur sinnvoll, wenn man in der Wissenschaft bleiben will. Und ich will nicht in der Wissenschaft bleiben.“ Als sie diskutieren wollten, sagte ich: „Das diskutiere ich nicht.“ Und siehe da, dieser magische Satz beendete die Situation.
Seitdem versuchte ich immer mehr, Grenzen zu setzen, und hier ist das Ding: Es wird einem nicht gedankt. Kein Mensch gibt einem Lob, Liebe oder ein Leckerli, weil man Grenzen setzt. Von meiner Familie erntete ich erst mal nur Unverständnis und Widerstand. Es ist für sie ja auch eine Umgewöhnung, dass sie mich nicht mehr wie ihr Schoßhündchen und Statussymbol behandeln dürfen. Wahrscheinlich können sie gar nicht anders. Mein Vater war selbst Opfer einer harten, gewaltvollen Erziehung. Er wurde nur wenige Jahre nach dem 2. Weltkrieg geboren, als das Nazigedankengut noch allgegenwärtig war. Da gab es so etwas wie Boundaries oder Selfcare nicht, da gab es nur Pflichterfüllung bis zum Letzten. Meine Eltern kennen das Konzept von Grenzen nicht, da es ihnen niemand beigebracht hat, da ihre Grenzen wahrscheinlich auch die ganze Zeit verletzt wurden. Das heißt, sie sind keine bösen Menschen, aber sie können das Setzen von Grenzen nicht verstehen und werden mich nicht dafür loben. Niemand wird das tun. Man wird mir keinen Preis dafür verleihen oder mir eine Urkunde geben. Es peppt nicht meinen Lebenslauf auf. Grenzen zu setzen ist gesellschaftlich nicht erwünscht, man soll ja arbeiten bis zum Umfallen. Das ist der Punkt dabei: Man tut es nicht für andere, sondern für sich selbst.
Aber was auch klar ist: Es kann mich niemand daran hindern. Meine Eltern können mich nicht mit Gewalt dazu zwingen, die Karriere zu verfolgen, die sie sich wünschen. Sie haben keinerlei Druckmittel gegen mich, anders als in meiner Kindheit. Sie müssen sich damit abfinden, was ich mache. Die einzige Person, die mich zu etwas zwingen könnte, die mich in den letzten Jahren zu all dem gezwungen hat, bin ich selbst. Weil ich die Wünsche meiner Eltern und der Gesellschaft internalisiert hatte. Daher bin ich selbst die Person, die mir Freiheit geben kann.
Ich möchte jetzt also radikal nach meinem eigenen Maßstab leben. Das ist oft beängstigend und macht mich ratlos, aber klar ist, ich gehe nicht zurück.
Vor kurzem habe ich meinem Vater gesagt, dass mich seine Äußerungen bei der Familienfeier verletzt haben und ich so etwas nicht mehr erleben möchte. Er hat sich zwar nicht entschuldigt, aber meine Worte zur Kenntnis genommen und ich hatte keine Angst dabei.
Als nächstes werde ich mir ein Tattoo stechen lassen, was meine Eltern immer strikt abgelehnt haben. Dann werde ich mir einen Job suchen und schauen, was für mich in Ordnung ist. Wenn möglich, möchte ich in Teilzeit arbeiten. Aber das Wichtigste ist, dass ich den Job kündigen darf, falls es mir dort nicht gut geht. Aufgeben ist OK.
Julia, 30, hat mittlerweile ihre Promotion abgeschlossen und sich ein Tattoo stechen lassen. Sie übt sich weiterhin im Grenzen setzen, so hat sie eine Freundschaft beendet und ein Jobangebot abgelehnt, weil die Arbeitsbelastung für sie zu hoch gewesen wäre. Somit ist sie immer noch auf Jobsuche, aber das ist ok.