„Du bist wütend!“ Ich blicke sie mit Tränen in den Augen an, überrascht und überfordert.
Ich habe ihr von meiner Verzweiflung erzählt. Wie unglaublich schwer und schmerzvoll alles ist und dass mich einfach niemand zu verstehen scheint. Allen ist egal, wie sehr mich dieser verdammte Teller unter Druck setzt, mir Angst macht, wie furchtbar es ist, jeden Tag mit Angst einzuschlafen und mit Angst aufzuwachen. Dass sie nicht einmal hier, in der Klinik, wo sie mir helfen sollen, wirklich verstehen, wie es in mir aussieht. Leer, schwarz, voller Schmerz, einsam. Dass ich es nicht „einfach anders“ machen kann. Und es doch so sehr versuche, während alle anderen einfach tun, was sie wollen.
„Aber du frisst die Wut in dich hinein. Anstatt sie an dem Ort rauszulassen, wo sie hingehört, lässt du sie an dir aus. Und am Essen“, fährt die Therapeutin fort. Ich ziehe die Beine an meine Brust, der Sessel drückt hart in meinen Rücken. Jede Bewegung tut weh, ob ich sitze oder liege. Was? Wo soll denn bitte Wut in mir sein? Da ist nichts mehr, ich bin innerlich tot, ohne jegliche Hoffnung, es da jemals wieder herauszuschaffen, jemals wieder etwas wie Glück oder Freude zu spüren. Wo soll da etwas anderes als Angst und Verzweiflung sein?
„Du hast ein Bild von dir, wie du sein musst. Klein, lieb und brav. Damit Menschen dich mögen. Aber: Menschen sind liebenswerter, wenn sie auch ihre Meinung haben. Menschen, die ihre Wut äußern können, die mal laut sind und auch mal streiten, sind viel authentischer. Ich würde lieber mit jemandem befreundet sein, die nicht alles mit sich machen lässt.“ Ihre Worte treffen mich mitten im Herz. Das stimmt doch nicht. Menschen haben mich immer verlassen, wenn ich Nein gesagt habe, wenn ich nicht alles gemacht habe, dass sie glücklich sind. Ich war immer allein, wenn ich mal gesagt habe, was ich möchte oder wie es mir wirklich geht. Und sie haben mir immer gezeigt, dass Wut schlecht und negativ ist. Seitdem habe ich es mir verboten.
„Es tut mir leid, das zu sagen, aber du bist nicht nur lieb. Niemand ist das. Kein Mensch ist immer freundlich und verständnisvoll. Wut zu zeigen heißt, Grenzen zu setzen. Wenn wir uns unfair behandelt fühlen, werden wir sauer. Wir beschützen uns dadurch, äußern Bedürfnisse und stehen für uns ein. Es ist wichtig und richtig, die Wut rauszulassen. Wir schaden uns selbst, wenn wir sie immer nur runterschlucken.“
„Ich weiß nicht, wie ich das machen soll“, flüstere ich, unsicher. Das altbekannte Gefühl von Verzweiflung in mir wächst. Ich habe keine Kraft oder Energie zu kämpfen, ich habe keine Stärke, keinen Mut und schon gar nicht Wut. Da ist nichts, ich fühle nichts.
„Ich möchte, dass du Wut in dir zulässt, sie manchmal vielleicht sogar ausdrückst. Wut ist nichts Schlechtes, im Gegenteil. Wir sind nur echt und vollkommen mit unserer Wut.“ Ich spüre ihren Blick auf mir, erwidere ihn aber nicht. Ich höre die Worte, aber ich kann sie nicht annehmen, geschweige denn fühlen. Ich habe einfach jahrelang das Gegenteil gezeigt bekommen. Immer nur Menschen und Freundschaften gehabt, die genau das nicht ausgehalten haben. Sie haben mir gezeigt, was Einsamkeit bedeutet, dass meine Bedürfnisse nicht ok sind. Wie soll ich da nicht irgendwann selbst an mir zweifeln, mich hassen und einfach als ein Nichts fühlen? WIE? Ich habe alles versucht, nicht allein zu sein, und doch war ich immer genau das. Allein. Sie haben mich nicht so genommen, wie ich war. Wie soll ich mich dann so nehmen, wie ich bin?
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„Du hast es bald geschafft“, sagt Sophie, die mir beim Essen gegenübersitzt. Sie selbst ist wegen psychisch bedingten chronischen Nackenschmerzen auf der Station.
Tränen füllen meine Augen. „Es ist so schwer“, beginne ich irgendwann leise. Ich erzähle ihr von der Sitzung gerade, von der Wut, die die Therapeutin von mir sehen möchte, die ich aber einfach nicht spüre. Als ich geendet habe, zucke ich hilflos mit den Schultern.
„Ich habe auch lange nichts gefühlt. Dann habe ich angefangen zu tanzen. Dabei habe ich keine Schmerzen.“ Sophies Worte lösen etwas in mir aus. Ich habe selbst einige Jahre getanzt und es so sehr geliebt. Bis ich auch das aufhören musste.
„Ich tanze auch hier sehr oft für mich. Wenn du möchtest, nehme ich dich einmal mit und wir probieren es aus.“ Ich zögere. Tanzen heißt Bewegung, Bewegung heißt Anstrengung, zu viel Anstrengung ist gefährlich. Sie würden es mir niemals erlauben. Aber da ist etwas in mir, eine kleine Erinnerung meines Körpers, wie gut mir das Tanzen einmal getan hat.
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Seit dem Gespräch beim Mittagessen treffen wir uns fast jeden Tag zum Tanzen in dem kleinen Bewegungsraum. Ich habe ständig Angst, es wird mir verboten, da ich mich nicht zu viel bewegen darf. Meine Therapeutin erlaubt es, wenn ich nicht zu viel, zu oft, zu lange tanze. Die Angst, dass sie die Meinung ändert, ist immer da, denn etwas in mir klammert sich an diese Tanzstunden. Sie sind das einzige Licht in dem dunklen Schmerz.
Wenn Sophie tanzt, bin ich gebannt und sprachlos. Sie hält die Augen geschlossen, sieht wunderschön dabei aus. Und frei. Frei von all der Qual und dem Schmerz, der auch sie jede Sekunde gefangen hält. Von Freiheit bin ich weit entfernt. Bei mir ist da nur dieses ich muss. Muss, muss, muss. Das Wort, das mich niederdrückt. Drückt mit Druck. Ich muss gut tanzen, muss das, was ich damals gelernt habe, zum Besten geben. Muss beeindrucken. Muss zeigen, was ich alles kann. Muss perfekt sein. Bin aber doch nie gut genug.
Stunde für Stunde gibt sie mir ein anderes Gefühl, das ich bewegend ausdrücken soll. Traurigkeit. Freude. Angst. Liebe. Bei Traurigkeit beginne ich ganz am Boden und stehe im Laufe des Songs ganz langsam auf. Wir wiederholen es mehrmals, bis ich endlich wirklich in dem Gefühl sein kann. Einmal muss ich während dem Tanzen sogar weinen. Bei Freude sagt sie mir, ich solle doch mal mit erhobenem Kopf und einem Lächeln wie ein Model durch den Raum laufen. Anschließend mit diesem Gefühl tanzen. Bei Angst stelle ich mir vor, in einem Käfig zu sein, aus dem ich nicht herauskomme. Die Gitterstäbe sind wie die Angst, die mich daran hindert, freizukommen. Für Liebe tanze ich einen Song für meine Mama.
Freude ist für mich am schwersten. Ich fühle sie seit Monaten nicht mehr. Und dann ist da noch die Wut, an die ich mich heranwagen soll. Doch da ist nur Hass gegen mich, keine Wut in mir. In fünf Tagen möchte ich sie aber meiner Therapeutin und einer Pflegerin zeigen. Noch fühle ich mich nicht in der Lage dazu, vor allem, wenn da noch zwei weitere Personen zuschauen.
„Ich dachte mir, dass dieses Lied für deine Wut sehr gut passt“, sagt Sophie heute und die ersten Töne fliegen aus der Musikbox. Sie sind mir nicht bekannt, als sie mich tanzend umgeben, aber ich habe sofort das Bedürfnis, mich mit ihnen mitzubewegen. Der Rhythmus ist schnell, er allein möchte mich schon mitreißen.
Sophie stoppt die Musik. Die Töne verpuffen wie der Rauch einer Kerze, die ausgepustet wird.
„Siehst du diese Säule da?“ Sie deutet neben sich. „Ich möchte, dass du sie antanzt. Mit deinen Bewegungen anschreist. Deine Wut gilt ihr. Konzentriere dich nur auf sie und das Gefühl.“ Ich drehe mich ein wenig schräg, um die große, weiße Säule zu betrachten. Ich schließe kurz die Augen, um besser in meinen Körper zu kommen. Dasselbe Lied beginnt, ich öffne die Augen, fixiere die Säule. Ich denke an alles, was mir die letzten Jahre so wehgetan hat. An den Schmerz, mit ich mich jeden einzelnen Tag auseinandersetzen muss. Doch so richtig will es nicht funktionieren. Als das Lied zu Ende ist, drehe ich mich voller Scham zu Sophie, die mich mit einem warmen Lächeln ansieht.
„Gleich nochmal. Denk und fühl dich in die Wut hinein, lass dich von den Bewegungen leiten!“
Wieder und wieder tanze ich zu dem Song. Und da, irgendwann finde ich irgendwo in meiner dunklen, kaputten Seele tatsächlich … Wut. Ich klammere mich an sie und stelle mir vor, sie gegen die Säule zu schießen. Ich gehe vor und zurück, drehe mich und mache große, schnelle Bewegungen mit dem ganzen Körper. Es ist unheimlich anstrengend, gibt mir gleichzeitig Kraft. Kraft, von der ich dachte, ich hätte sie für immer verloren. Kraft, die mir neu und zugleich bekannt ist. Und ich kann nichts gegen das kleine Lächeln in meinem Gesicht machen. Ich weiß jetzt, was es ist, dass sich da in mir wieder hochkämpfen möchte. Leben. Da ist noch Leben in mir und es ist, als würde die Wut es mit nach oben ziehen wollen. Ich traue mich, immer mehr Raum einzunehmen, vergrößere meine Bewegungen und nutze die gesamte Fläche. Ich traue mich, mich zu zeigen, anstatt immer nur zu verstecken und unsichtbar zu sein. Ich fühle mich immer sicherer in meinem Tanz. Ein neues Gefühl kommt zu der winzig kleinen Lebendigkeit hinzu. Freiheit. Blau, Weiß und doch warm, Dunkelrot. Es ist wie ausbrechen aus dem Gefängnis, das ich selbst bin. Es ist wie atmen, da ist ein kleines Licht, das Hoffnung ausstrahlt. Und jedes Mal, wenn meine Gedanken wandern wollen, richte ich sie mit aller Kraft auf die Säule. Und plötzlich ist es, als würde sich in mir etwas öffnen, das mich endlich Wut fühlen lässt. Wut auf meine damalige beste Freundin, die mich jahrelang nur ausgenutzt hat. Wut auf ihn, den ich viel zu viele Grenzen hab überschreiten lassen. Wut auf meine Schule, in der ich mich nur falsch, allein und ohne Wert gefühlt habe. Wut auf Menschen, die plötzlich gegen mich, böse auf mich waren, als ich sie am meisten gebraucht hätte. Wut auf diese verdammte Krankheit, die mich aus dem Leben gerissen hat und jeden Tag so leiden lässt. Wut auf die Menschen, die mir einfach nicht helfen wollten, als ich am Boden war, verzweifelt vor ihnen gesessen habe und nicht mehr nach Hause gehen konnte. Wut, Wut, Wut. Wut, die mir unglaubliche Stärke gibt. Für diese Momente bin ich bei mir und meinem Körper, den ich sonst so sehr verabscheue. Für einen Augenblick vergesse ich fast, dass ich dachte, mein Leben wäre für immer zu Ende. Dass ich eigentlich keinen Sinn mehr gesehen habe. Aber jetzt, hier, mit der Musik und meiner eigenen Kraft, habe ich etwas, woran ich mich festhalten kann.
Fünf Tage später habe ich gezeigt, was ich mit Sophie erarbeitet habe. Meine Therapeutin und die Pflegerin waren sprachlos, haben dieselbe Kraft in mir gesehen. Sie haben mir erlaubt, weiterhin mit Sophie zu tanzen. Und wirklich, in mir ist wieder ein Funken Glück.
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Heute war Wiegen. Und sie wollen mir verbieten, zu tanzen, es sei zu anstrengend, zu gefährlich. Ich könnte zu viel verlieren. Meine große Angst hat sich bestätigt, sie wollen mir das nehmen, was mir endlich wieder Kraft gibt, weil es mir zu viel Kraft nimmt. Es ist wie ein Schlag, der mich wieder zu Boden reißen und nach unten drücken will. Nein, NEIN! Das dürfen sie nicht. In mir wächst wieder ein großes, einnehmendes Gefühl. Aber es ist keine körperlose Angst oder Verzweiflung, nein. Es ist Wut. Wut darüber, dass sie denken, es würde mir helfen, mich einzusperren, mich zu kontrollieren und mir das zu verbieten, was mir nach so langer Zeit endlich wieder Halt und Stärke und Sinn gibt. Wut darüber, dass niemand mich hier versteht und sie trotzdem denken, nur sie wüssten, was mir hilft. Ich bin wütend, weil sie denken, sie könnten einfach über mich bestimmen. Aber ich kann – will – nicht mehr nur schwach, klein und unsichtbar sein. Das Tanzen hat mir Leben, Hoffnung, Halt gegeben, egal wie klein es noch sein mag. Ich kann das nicht aufgeben. Sie dürfen es mir nicht verbieten. Sie dürfen mir nicht das Einzige verbieten, was mich endlich wieder fühlen lässt. Was mich vielleicht endlich zurück zu mir finden lässt. Und in diesem Moment weiß ich, dass ich weiterkämpfen werde. Für meine Wut. Mein Tanzen. Und vor allem: für mich.
Leonie Hechenberger, 21, ist 2022 von Österreich allein nach Berlin gezogen. Dort geht sie ihrer Leidenschaft des Schreibens im Studium nach und hofft, in der großen, neuen Stadt endlich ihren Platz zu finden.
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