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Tobias U.

Es ist eine gefährliche Sache



»Es ist eine gefährliche Sache, Frodo, aus deiner Tür hinauszugehen. Du betrittst die Straße, und wenn du nicht auf deine Füße aufpasst, kann man nicht wissen, wohin sie dich tragen.«


Dies sind die Worte, die der berühmte Hobbit Bilbo Beutlin seinem Enkel Frodo mit auf den Weg gibt, als dieser seine Heimat verlässt und sich zu einem großen Abenteuer aufmacht. Als ich kurz davor war, die Reise ins weit entfernte Asien anzutreten, fielen mir diese Worte aus meinem geliebten Herr der Ringe wieder ein. Denn es war eine gefährliche Sache, und wie Frodo fühlte ich mich keineswegs bereit dazu.

Doch wer war ich eigentlich vor der Reise?

Ich lebte seit ich denken kann in einer Kleinstadt, hatte noch immer dieselben wenigen Freunde wie zu Schulzeiten und wohnte noch immer im damaligen Kinderzimmer bei meinen Eltern. Ich war orientierungslos, wusste nicht was ich anfangen soll mit meinem Leben. Die innere Leere fraß mich auf und das Gedankenkarussell drehte sich unaufhörlich. Viele Jahre hatte ich nur funktioniert, in der Ausbildung, für die ich mich auf guten Rat der Eltern entschied (der große Bruder hat es schließlich auch so gemacht) und danach in meinem Job, der mich eigentlich gar nicht erfüllte. Schon früh in der Ausbildung habe ich gemerkt, dass es nicht das Richtige ist, doch ich zog es durch. Aber warum? Warum hatte ich das getan? 5 Jahre meines Lebens mit Ausbildung und Hocharbeiten und Weiterbilden »verschwendet«, in einem Job, der mir eigentlich gar nicht gefiel. Ich war schon immer ein Perfektionist. Ich konnte die Ausbildung nicht abbrechen, denn dann hätte ich aufgegeben. Niemand machte mir so viel Druck wie ich selbst. Es kam mir vor, als sei ich wie betäubt. Nach den Prüfungen der Realschule direkt ab ins Arbeitsleben, während die meisten anderen weiter Schule machten (wofür mein Abschluss als Jahrgangsbester sehr wohl ausgereicht hätte) oder ein Gap Year. Wann hatte ich jemals Zeit auszuatmen und mir darüber Gedanken zu machen was ich eigentlich will? Ich war all die Jahre im ständigen Kampf mit mir selbst, voller Selbstzweifel und bereute meine bisherigen Entscheidungen. Hätte ich Abi machen sollen? Hätte ich studieren sollen? Aber wenn ja, was? Oder doch ein Gap Year? Ein freiwilliges soziales Jahr? Doch um all die Fragen in ihrer Tiefe zu beantworten blieb mir kaum Kraft, denn ein Job, der einen nicht erfüllt, raubt sämtliche Energie.


Am Ende des Jahres hatte ich dann all meinen Mut zusammengenommen und gekündigt, ich konnte nicht mehr. Doch ich hatte keinen Plan B. Nach totaler Überarbeitung war da plötzlich Stille und Ruhe. Und der Stille folgte diese innere Leere.


Was wollte ich wirklich? Warum bin ich hier? Wer bin ich eigentlich? Was würde ich später bereuen, wenn ich es jetzt nicht täte? Wie könnte ich meinen Fehler wieder korrigieren? Der Druck stieg, sowohl der, den ich mir selbst machte, als auch der Druck von außen. Sollte ich mich gleich in den nächsten Job stürzen? Konnte ich es wagen, mit gerade einmal 22 Jahren arbeitslos zu sein? Würde mir die »Lücke im Lebenslauf« die Karriere zerstören?


Doch nun war ich arbeitslos und all diese Fragen, all diese Erkenntnisse und Gedanken schwirrten wie wild in meinem Kopf herum. Jeder Tag war ein Kampf mit mir selbst, und da nun auch mein Job fehlte, stürzte ich in ein Dasein aus Sinnlosigkeit und Grübeln. Die ersten Monate »füllte« ich diese Sinnlosigkeit, indem ich mich in die Welt der Hochschulen und Universitäten stürzte. Ich wollte meinen »Fehler«, nicht studiert zu haben, wieder gut machen und informierte mich intensiv über all die unendlich vielen Möglichkeiten, die ich hatte. Doch nach etlichen Beratungsgesprächen, Infoterminen und Recherchen wusste ich immer noch nicht, was ich wollte. Gleichzeitig bewarb ich mich auf neue Jobs. Bei Absagen dachte ich: »Ich bin halt nicht gut genug«, bei Zusagen lehnte ich ab, denn ich hatte Angst, wieder denselben Fehler zu machen und mich in einen Job zu stürzen, der mir nicht gefiel. So war ich nicht in der Lage eine Entscheidung zu treffen und vegetierte vor mich hin. Parallel beschäftigte ich mich auch viel mit Meditation und Spiritualität, denn das war das einzige, woran ich mich festhalten konnte. Videospiele, Bücher oder Netflix lenkten mich schon lange nicht mehr ab, die Freude an Dingen, die mir früher Spaß machten, hatte ich verloren. Als ich dann eines Morgens meditierte, kam mir folgender Gedanke »Warum mache ich mir selbst eigentlich solch einen Stress? Warum setze ich mich so unter Druck? Habe ich mir je erlaubt einfach mal nichts Sinnvolles zu tun? Ich war zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Monate arbeitslos und fühlte mich dennoch unglaublich gestresst. Ich konnte noch nicht einmal richtig abschalten. Und so kam ich auf die Idee ins Ausland zu reisen, denn mir wuchs das alles hier in Deutschland über den Kopf. Ich musste einfach weg von allem, Abstand gewinnen.

Natürlich hatte ich riesige Angst diese Reise anzutreten. Also entschied ich mich dafür, nach Thailand zu reisen, da mein Bruder auch schon dort war und sich auskannte. Er gab mir einige Tipps und etwas Sicherheit. Doch noch immer war die Angst zu groß, meine Komfortzone zu verlassen. Also suchte ich mir online einen Reisepartner und wurde fündig. Wir planten die Reise grob zusammen und buchten den Flug. Nun hatte ich jemanden, der sich darauf verließ, dass ich mit ihm die Reise antrat. Es gab kein Zurück. Und dann war es soweit, die Reise begann.




Die Ängste davor, sich das erste Mal an einem Flughafen alleine zurechtzufinden und sich komplett selbst zu organisieren, erwiesen sich als unnötig. Denn alles klappte wie am Schnürchen. Am Flughafen Bangkok verließ ich das erste Mal meine Komfortzone, indem ich jemanden ansprach, der offensichtlich auch Backpacker war. Wir kamen schnell ins Gespräch, es war auch seine erste Backpackingreise alleine, und so streiften wir die ersten Tage zu dritt durch Bangkok. Und nach den vielen einsamen Monaten der Arbeitslosigkeit, in denen ich fast lebte wie ein Einsiedler, merkte ich, ich kann es immer noch. Ich kann auf andere zugehen und fremde Leute ansprechen! Die ersten Tage in Bangkok waren atemberaubend. Durch den Jetlag und die vielen neuen Eindrücke kam es mir vor, als wäre ich schon 2 Wochen dort anstatt 2 Tage. Es gab so viel zu entdecken: Die exotischen Speisen, die immer lächelnden Thailänder, riesige Märkte, die Bars und Clubs, die wunderschönen Tempel, den Königspalast und noch vieles mehr. Der krasse Kontrast zwischen dem sinnlosen Dasein zu Hause und dem bunten, lauten und vollen Bangkok hatte mich überwältigt und ich konnte gar nicht richtig ankommen. Nach Bangkok trennten wir uns wieder von unserem neuen Kumpanen, denn wir hatten andere Ziele. Mit dem Nachtbus fuhr ich mit meinem Travelbuddy weiter ganz in den Norden nach Chiang Mai. Dort wurde das Sonkran Festival, das thailändische Neujahrsfest gefeiert. Der Beginn des neuen Jahres wird auf mitreißenden Straßenpartys mit großen Wasserschlachten gefeiert. Es war ein riesiges Spektakel. Hier merkte ich auch das erste Mal, dass mein Mitreisender und ich nicht ganz so gut zusammenpassten, wie ich noch vor der Reise gehofft hatte. Während ich gerne das Neujahrsfest gebührend feiern wollte, blieb er lieber im Hotelzimmer. Ich merkte, wie ich immer mehr den Drang verspürte, alleine weiter zu ziehen. Wir waren in unseren Auffassungen und dem, was wir in Thailand erleben wollten, einfach zu unterschiedlich.

Doch was ich dadurch lernen konnte war folgendes: In den letzten Monaten hatte ich mich selbst verloren. Ich wusste nicht, wer ich bin. Durch die starke Abgrenzung zu meinem Reisepartner, durch die vielen Punkte in denen ich merkte, da bin ich anders, grenzte ich mich nicht nur von ihm ab. Ich konnte einen Teil meines eigenen Ichs wiederfinden, durch die Abgrenzung zu einem anderen Menschen, der einfach komplett anders war als ich. Für mich schien es, als werde das Gefühl dafür, wer wir sind, maßgeblich durch die Menschen in unserem Umfeld geprägt.


Mein Reisepartner und ich besprachen, dass wir unterschiedliche Ziele hatten, und für uns beide war es somit in Ordnung, getrennte Wege zu gehen. Doch je näher dieser Tag am Ende der ersten Woche kam, desto mehr spürte ich die Angst in mir hochkommen. Würde ich allein zurechtkommen? Was wäre, wenn mir etwas passiert? Schaffe ich das, alleine in einem fremden Land zurechtzukommen? Das Gedankenkarussell begann sich wieder zu drehen.


Und dann ging meine Reise weiter, noch nördlicher in das beliebte kleine Dorf Pai, umgeben von wunderschönem Dschungel und tollen Canyons. Dort verbrachte ich nur eine Nacht und begab mich danach per Inlandsflug auf die südlichen Inseln ans Meer. Noch nie hatte ich mir solche Reisen selbst organisiert, doch das alles war hier kein Problem. Die Leute waren unglaublich hilfsbereit, das Land hat eine unglaublich gute Infrastruktur, und von A nach B zu kommen war kein Problem. Ich merkte, dass ich mir viel weniger zutraute, als ich eigentlich kann. Ich konnte alleine reisen, mit fremden Menschen ins Gespräch kommen. Ich merkte, dass ich etwas Selbstrespekt wiedergewann, den ich so lange verloren hatte. Dinge zu organisieren war hier so einfach, und zu Hause war es mir so schwergefallen. Irgendwie paradox. Und während ich mich an Flughäfen zurechtfinden und meine Reise planen musste, mir Gedanken machen musste, wo ich die Nacht verbrachte, merkte ich, wie das Gedankenkarussell verschwunden war. Ich war im Hier und Jetzt, vollkommen gegenwärtig. Ich übte mich im Smalltalk mit Engländern, wanderte alleine im Dschungel, machte Wasserschlachten am Neujahresfest, unterhielt mich in einem Dorm eine ganze Nacht über Gott und die Welt mit einem Singapurer, und ich ging das erste Mal alleine in eine Bar und merkte: Ich komme allein zurecht. Ich fühle mich viel erwachsener und selbstbestimmter als zu Hause.


Trotzdem muss ich auch sagen, dass ich mich immer wieder auch sehr einsam fühlte. Als introvertierter Mensch fiel es mir einfach unglaublich schwer, auf andere zuzugehen oder die Nächte durchzufeiern. Mein Highlight der ganzen Reise war dann die Teilnahme an einem zertifizierten 3-tägigen »open water« Tauchkurs. Mein Tauchlehrer war wirklich gut, und er merkte schnell, dass ich wohl ein Talent fürs Tauchen hatte. Die Unterwasserwelt zu sehen, quasi schwerelos durch das Meer zu schweben, war atemberaubend. Es war eine andere Dimension. In den Tiefen war ich weg von allem. Mein Kopf war leer. Ich war wieder im Hier und Jetzt, in diesem Flow-Zustand. Genauso ging es mir auch beim Motorroller fahren. Ich habe vorher noch nie auf einem Roller gesessen, und im Linksverkehr bin ich erst recht noch nie gefahren. Trotzdem lieh ich mir mehrmals Motorroller und erkundete die tropischen Inseln. Und wie ich so den Wind in meinem Haar spürte und ich dem wundervollen Sonnenuntergang entgegen fuhr, fühlte ich mich unglaublich lebendig und präsent.






Um mich weiter in Gegenwärtigkeit zu üben, beschloss ich ein Meditationszentrum aufzusuchen. Hier übte ich die Walking Meditation. Auf einem großen Plateau geht man in Schrittgeschwindigkeit und mit leicht gesenktem Kopf von einem Ende zum anderen und lässt die Gedanken einfach vorbeiziehen, anstatt sie festzuhalten. Sollten Grübeleien und Gedanken hochkommen, so war ich spätestens am Ende des Plateaus wieder präsent, denn ich musste mich umdrehen um in die andere Richtung zu laufen, ansonsten wäre ich vom Plateau heruntergefallen. Während ich praktizierte, kamen viele Gedanken und Emotionen hoch, teilweise auch sehr alte, die ich schon lange vergessen hatte. Danach führte ich noch ein sehr interessantes Gespräch mit einem der Mediationstrainer. Auch hier ging es unter anderem um das Thema »Berufung«. Vor allem ein Satz blieb mir in Erinnerung: »Im Grunde muss die Handlung gefallen, nicht die Erreichung eines Ziels. Außerdem muss man sich ausprobieren und neu erfinden, immer wieder, bis man das Richtige gefunden hat.«


Es war nicht so, als wären alle meine Probleme verschwunden, doch durch den Abstand zu allem begann ich alles aus der Vogelperspektive zu betrachten. Alle Probleme erschienen hier so klein. All die »Must haves« in unserer westlichen Welt – Geld, Erfolg, Schönheit, Karriere, finanzielle Freiheit, Ruhm – alles erschien mir hier so unbedeutend. Niemand hatte hier viel Geld und trotzdem waren die Menschen unglaublich fröhlich und zufrieden. Und das ist auch das, was die vielen spirituellen Lehren sagen, dass all die Dinge von außen allein nicht zu Glück führen. Doch ich fragte mich nach wie vor: Was führt denn dann zu einem glücklichen, erfüllten Leben? Dann kann ich ja gleich gar nichts mehr machen und alles ist sinnlos. Glück wäre vielleicht ein Leben ohne Probleme, aber gibt es das? Geht es im Leben nicht darum Probleme zu lösen? Entsteht dadurch nicht erst Glück? Denn auch hier in Thailand waren meine Probleme nicht verschwunden, sie waren nur weit weg. Das Lebensglück schien für mich nicht vom Aufenthaltsort abzuhängen. Alle Probleme und Sorgen hatte ich trotzdem immer bei mir im Gepäck. Ich hörte viele Podcasts zu dem Thema und begann mich zu fragen, warum wir so viel Zeit damit verbrachten, uns auf den Zeitpunkt vorzubereiten, an dem wir tun können was wir möchten (oft erst ab Renteneintritt), anstatt es sofort zu tun? – natürlich, weil wir Geld brauchen. Jedoch beobachtete ich aber auch, dass die Menschen, die dem folgen, was ihnen entspricht, oft Glück haben und die Dinge sich fügen. Ebenso wie sich auch auf meiner Reise ohne klares Ziel und ohne große Organisation alles fügte. Ich habe eine Richtung eingeschlagen und geschaut was passiert. Ich habe alles fließen lassen, die Dinge genommen, wie sie kamen. Der Lebensweg entsteht, man kann ihn nicht planen. Veränderung ist eine Konstante. Doch dies konnte nur geschehen, weil ich begonnen habe zu handeln und die Reise überhaupt angetreten habe. Ohne Eigeninitiative, einen ersten Schritt, also keine Fügung. Ließe sich dieser Gedanke auch auf mein Leben übertragen?



»Und es kam der Tag, da das Risiko, in der Knospe zu verharren, schmerzlicher wurde als das Risiko zu blühen.« - Anais Nin




 

Tobias U., 22, möchte sich in diesem Jahr noch der Herausforderung stellen, von zu Hause auszuziehen und ein Studium zu beginnen. Auch wenn er sein berufliches Ziel noch nicht kennt, ist es für ihn das wichtigste, auf dem Weg zu sein. Gleichzeitig versucht er seinen Perfektionismus etwas abzulegen, da Beruf und Karriere nicht alles sind, was eine Persönlichkeit ausmacht, und widmet nun mehr Zeit seinen Interessen und seinen Freunden.


Das Copyright der Fotos liegt beim Autor.




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