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24 Stunden im Lebensalltag eines Heroinsüchtigen




Ich werde wach und Luna liegt nicht mehr neben mir. Nur ein bisschen Kleingeld, etwa 2 Euro und 50 Cent, und ein Zettel mit der Bitte, dass ich heute wieder das Zeug zu ihrer Arbeitsstelle bringen müsse, da sie sonst den Arbeitstag nicht überstehen würde. Kein Problem, denke ich mir bereits entzügig zitternd, ich war schon davon ausgegangen, dass dies der Fall sein wird. Müde und traurig darüber, dass sie nicht mehr in der Wohnung bei mir ist, trotte ich ins Wohnzimmer zu meinem Brett. Ich konsumiere die letzte Line Heroin nasal, die ich mir immer für den nächsten Morgen aufhebe, damit ich, wenn ich mit ekelhaft kaltem Entzugsschweiß aufwache und nicht mehr klarkomme, zumindest schnell meinen beschissenen Zustand bessern kann. „Gesund machen“, wird dies von Junkies auch genannt. Dann bleibt mir auch nicht mehr viel übrig, als ins Bad zu gehen, unmotiviert meine Zähne zu putzen, und schließlich auf der Couch zu warten, bis der Dealer mir endlich schreibt. Bedingt durch popkulturellle Darstellungen, wie z.B. bei „Christiane F.“ denken vielleicht einige, dass das Leben als Heroinsüchtiger bei all dem Leid zumindest aufregend, chaotisch und actionreich sei. Doch das plumpe Gegenteil ist der Fall: Man wird durch die Sucht zum waschechten Spießer, der zwangsweise eine unverrückbare Tagesstruktur entwickelt, weil man sonst nicht immer sein Zeug parat hat und als Folge dessen völlig am Arsch ist. So besteht jeder Tag stets daraus, entweder Geld oder Zeug zu organisieren, oder eben auf jenes Geld oder Zeug zu warten. Und besonders dieses Warten macht gefühlt die Hälfte des „Junkie-Daseins“ aus, also nichts mit Action oder Nervenkitzel. Doch heute habe ich „Glück“, sodass ich gleich schon loskann und dann um 11:15 in Kiel-Gaarden sein soll.


Ich sammle meine sieben Sachen zusammen, drehe mir eine, und mache mich auf den Weg. Nach zehn Minuten Fußweg stehe ich am Gleis des kleinen Einfelder Bahnhofs. Obwohl wir moderate Herbstemperaturen haben, friere ich elendig. Denn das Bisschen, was ich da gezogen habe, lindert mittlerweile nur noch die schlimmsten Entzugssymptome wie unkontrollierbares Erbrechen. Die Kapuze über den Kopf ziehend, denke ich an den Wintertag bei Minusgraden, wo wir hier bis zur schlimmsten Suizidalität entzügig standen, äußerlich und innerlich erfrierend, und die beschissene Bahn nicht kam und ewig auf sich warten ließ. Heute kommt sie pünktlich eingefahren, 10:39. Zum Glück fährt man im Regelfall nur 18 Minuten bis nach Kiel. Ich steige ein und suche erstmal das nächste freie WC, denn natürlich habe ich kein Geld über für ein verdammtes 11-Euro-Einzelticket. So als wäre es mit meiner Angst- und Panikstörung nicht schon schlimm genug immer in überfüllten Zügen und Bussen zu fahren, nein, ich stehe auch immer unter wahnsinniger Anspannung, dass ich nicht beim Schwarzfahren auseinandergenommen werde. Bisher war ich immer dem Kontrolleur einen Schritt voraus, aber ich bin nicht dumm und übermütig, ich weiß ganz genau, dass das nicht ewig so weitergehen wird …


Ich hasse den Geruch der DB-WCs, aber zumindest bin ich hier für mich allein und nicht unter lauten, anstrengenden Menschen, und schließlich sind es nur noch 15 Minuten bis zum Ziel, die ich mit Musik hören verbringe. Am HBF Kiel angekommen, laufe ich schnell zum Bus, um bloß rechtzeitig bei Lunas Arbeit zu sein. Zum Glück steht die 11 noch da und ich steige in das übervolle Mistding ein. Neben mir stehen tatsächlich noch ein paar andere Junkies, denen man den Konsum sofort ansieht, während bei mir äußerlich noch alles „normal“ erscheint. Aber wenn ich so weitermache … Ja, wenn ich so weitermache, wird mir dies in 5 oder 10 Jahren auch nicht erspart bleiben, da mach ich mir keine Illusionen, auch wenn ich nicht spritze, aber Heroin ist nun mal Heroin. Wie gedacht steigen die Junkies mit mir an der Haltestelle „Karlstal“ aus, denn tatsächlich befindet sich dort mehr oder weniger an jener Bushaltestelle um den Rewe und Vinetaplatz der größte Teil der offenen Drogenszene Kiels. In eiligen Schritten schreite ich an all den ebenfalls abgemagerten Süchtigen vorbei, von denen gerade einige ganz selbstverständlich ein bisschen Crack rauchen, während ich schnell im Rewe verschwinde und nach Brötchen und Zucker suche. Da wir bei unserem Dealer auf Kommission bekommen, also erst später bei Erhalt unserer monatlichen Geldquellen bezahlen können, mache ich diese „Freundschaftsdienste“ für ihn. Es sind wohl eher Sklavendienste, denn er wohnt selber nur 4 Minuten zu Fuß vom Rewe und könnte problemlos alles selber einkaufen, aber wenn man schon ein paar Heroinsüchtige hat, die beinahe alles für einen tun, dann kann man die ja dafür losschicken. Ich bin mir sogar relativ sicher, dass er das macht, nur um seine Macht über uns zu demonstrieren. Es nervt zwar, aber solange ich dieses Teufelszeug von ihm bekomme, ist mir dieses bisschen Sklave sein egal. So traurig es auch klingt.


Ich klopfe dreimal an die Tür, verschlafen macht er mir auf. Es riecht nach Rauch und die Wohnung ist genauso schmutzig und verstaubt wie das Treppenhaus jener Wohnung, voller Graffitis und Zigarettenstummeln auf dem Boden. Ich setze mich kurz auf sein Sofa, reiche ihm die Brötchen und den Zucker. Die Sachen stellt er weg, gibt mir das Geld dafür, und trägt die neuen Schulden in seine Liste ein. Es müssten jetzt so 1200 oder 1300 Euro sein, aber so genau will ich es gar nicht wissen.

„Sind das heute nochmal 2 oder nur 1,5?“, frage ich leise und zurückhaltend, auf die zwei Tütchen auf dem Tisch deutend.

„Das sind heute nochmal 2, aber kann das nicht mehr so weitergehen, ihr müsst weniger nehmen oder bald mal wieder Geld bringen“, antwortet er mürrisch.

„Okay, vielen Dank“, murmle ich nur und stecke die zwei Plastikpäckchen ein. Dann verabschiede ich mich schon mit dem Verweis darauf, dass ich das noch Luna zur Arbeit bringen müsse.

Hektisch schaue ich, dass ich den nächsten Bus zurück Richtung Bahnhof bekomme. Bei der kurzen Fahrt achte ich darauf, ob ein Kontrolltyp einsteigt. Am Bahnhof angelangt, habe ich zum Glück noch einen Moment Zeit und gehe zügig zum WC des Sophienhofs. Hektisch lege ich eine große, aber bloß nicht zu große Line, um von dem Zeug nachher zu Hause noch was übrig zu haben. Direkt beim Ziehen und dem „Geschmack“ in der Nase fühle ich mich zumindest etwas besser, als wäre dies mein Obelix-Trank, der alles wieder halbwegs erträglich macht, auch wenn er irgendwann mir alles im Leben Wichtige nehmen wird.


Leicht aus der Puste, doch den Zug noch geschafft, schreibe ich direkt Luna, dass alles geklappt hat, dass wir heute ausnahmsweise nochmal 2 Stunden (also zwei Gramm) bekommen haben, und ich etwa um 12.45 bei ihrem Rossmann bin, sodass sie dann hoffentlich ihre Pause entsprechend legen kann. Aber manchmal geht das nicht, und ich muss es ihr zur Kasse bringen. Für den Fall, dass heute wieder so ein Tag sein sollte, kaufe ich extra auf dem Weg zu ihr beim Bäcker zwei Laugenstangen von dem wenigen Kleingeld, das wir noch besitzen. Jede Laugenstange hat ihre eigene Tüte, sodass ich in Lunas Tüte auch ihre zwei Gramm hineinlege. Doch kaum befinde ich mich wenige Meter vor dem Rossmann kommt sie mir schon entgegen, als würde sie mich sehnsüchtig erwarten, und das tut sie sicher auch. Nicht unbedingt allein wegen mir, aber eben deswegen, weil ich ihr „Erlöser“ mit dem Zeug bin. Das klingt zwar erbärmlich traurig, doch die Umwandlung des Körpergefühls von unendlich entzügig zu vollgepumpt mit gutem Heroin fühlt sich leider wie eine Art „Wiedergeburt“ an. Denn plötzlich plagt einen nicht mehr das wirklich und ohne Übertreibung schlimmste Gefühl dieser Welt bezüglich Körper und Geist, sondern für ein paar Stunden eins der vermeintlich „schönsten Gefühle dieser Welt“, wenngleich es auch künstlich erzeugt wird und die Intensität mit jedem Mal Konsumieren abnimmt. Ich umarme sie einmal schnell, dann gebe ich Luna „ihre Tüte“ und schon ist sie auf dem Weg zum Mitarbeiter-WC. Ich freue mich schon auf später, wenn sie endlich wieder zuhause bei mir ist. Ich will gar nicht wissen, wie sie das hinbekommt zu arbeiten trotz der quälenden Entzugssymptome. Denn manchmal, nein, ganz oft denke ich mir, dass Luna der viel stärkere Mensch von uns beiden ist und ich ein erbärmlicher Versager. Denn trotz Suchterkrankung geht sie noch arbeiten, während ich seit 2 Jahren schon nicht mehr studiere, obwohl ich als einer der mit Abstand besten Studenten meiner Uni mit einem Elite-Stipendium gefördert wurde, und meine „Karriere“ als Schriftsteller mehr oder minder auf Eis liegt.


Oh mein Gott, endlich zuhause, denke ich mir beim Aufschließen unserer Wohnung. Wie ein Irrer renne ich zu meinem Brett und streue den Rest der 2-Gramm-Schore auf das Ikea-CD-Regal-Brett, das eigentlich mal weiß war, und nun hell- und dunkelbraune Verfärbungen aufweist. Ich gönne mir die zweite dicke Nase für heute und rauche erstmal Kippe nach Kippe. Dabei schaue ich sinnlos irgendwelche Videos auf YouTube, bis ich fassungslos lesen muss, dass mal wieder einer meiner Lieblingsrapper in den USA am helllichten Tag erschossen wurde. Ich werde noch etwas melancholischer und klicke mich wahllos nochmal durch seine ganze Diskographie und dann wieder durch Videos zu den Tatumständen. Als ich irgendwann mal auf die Uhr schaue, stelle ich leicht erschrocken fest, dass Luna in etwa einer Stunde zuhause ist. Ich suche mir irgendeine halbwegs spannende True-Crime-Folge raus, und höre diese, während ich versuche, es in der begrenzten Zeit so schön wie möglich für Luna zu machen. So räume ich etwas auf und säubere vor allem die Couch und den davorstehenden Wohnzimmertisch samt Aschenbecher. Schließlich bringe ich all den Müll raus und versammle möglichst viele unserer „Freunde“ (unsere vielen Kuscheltiere) auf dem Sofa, sodass wir später ganz gemütlich kuscheln können. Wenn sie dann schreibt, dass sie im Bus sitzt, erhitze ich die Herdplatte. Da wir manchmal kein Geld für Lebensmittel haben und meistens nur ganz wenig, gibt es heute wie wohl jeden zweiten Tag grünes Pesto von „Gut und Günstig“ mit Spaghetti von „Gut und Günstig“. Wenn es mal gut läuft, gibt es eventuell auch noch ein bisschen geklauten Parmesan. Als ich das Nudelwasser abgieße, höre ich sie reinkommen, perfektes Timing von mir. Sie freut sich, umarmt mich und wir essen im Wohnzimmer, dabei eine Folge „Greys Anatomy“ schauend. Sie und ich erzählen uns dann von unserem Tag, sie von nervigen Kunden und ich vom nervigen Dealer, alles wie gehabt und gewohnt. Nach ein paar Zigaretten kuscheln wir. Dabei halten wir nicht nur einander im Arm, sondern auch viele unserer Kuscheltiere, unter anderem auch unseren Liebling: ein Peppa-Pig-Plüschschwein. Wir beide tragen nur Unterhose und Shirt und wärmen uns aneinander auf. Diese Stunden mit ihr unter der Decke, an ihrer weichen Haut und ihrem wärmenden Körper, sind wohl die mit Abstand besten Stunden meines gesamten Tages. Wir tun nichts, wir kuscheln nur. Für den Moment kein Stress, keine Sorgen, sondern nur Wärme von ihr und Wärme vom Heroin. Mittlerweile sind wir beide gut benebelt von dem Gift und spüren zumindest etwas davon.

Doch irgendwann muss sie leider schlafen gehen, da sie morgen wieder arbeiten muss. Das ist der Moment, in dem ich mich jedes Mal beschissen, erbärmlich und nutzlos fühle. Kurz versuche ich bei ihr, neben ihr im Schlafzimmer, zu schlafen, doch ihr Schnarchen ist heute noch lauter und hält mich davon ab, einen Moment innerer Ruhe zu finden. Also trotte ich auf das Sofa im Wohnzimmer, mit dem Gefühl, dass der Tag morgen so deprimierend anfangen wird, wie er heute geendet hat.



 

Paul Fehlinger, Jahrgang 1999, aufgewachsen und wohnhaft in den Städten Nortorf, Kiel, Neumünster und norddeutscher Umgebung - ist studierter Geisteswissenschaftler/Philosoph und literarischer Autor. Seine Erzählungen erschienen in verschiedenen Anthologien und digitalen Formaten. Er hat bislang einen Roman, eine Kurzgeschichtensammlung und zwei Novellen veröffentlicht, zuletzt "Entführt vom ersten Fan"(2024).

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